Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
Ein Sportwagen, schwarzes Cabriolet mit 200er Reifen braust heran, wird von der Polizei gestoppt und muss die Demonstranten vorbeilassen. Dicht am neuesten Modell von Mercedes läuft der Zug vorbei: Drinnen zwei junge Männer - schicke Sakkos, Goldkettchen. Sie sind sehr nervös. Die Polizei auch. Aber nichts geschieht. Kundgebung drunten auf der Insel Schütt: Während der Gewerkschaftsvorsitzende spricht, tanzen und singen die Kurden, braten die Spieße. Flugblätter werden verteilt. Die Veranstalter werden auf eine gelungene Veranstaltung zurückblicken und haben sich selbst am meisten gewundert, dass so viele gekommen sind. (Aber ändern? Ändern wird sich nichts.) Noch nie hat es in Deutschland so viele Arbeitslose gegeben wie heute, am Tag der Arbeit 1997. (Übrigens, noch nie hat es in Deutschland so viele Arbeitslose gegeben wie heute, am 1. Mai 2003.) Noch nie ist soviel darüber geredet worden. Nicht nur heute, sondern schon die Wochen und Monate zuvor, all die Jahre. Nicht nur in Parlamenten und Rathäusern, in den Parteien und Gewerkschaften, auch in der Kirche. Trotzdem hat sich die Lage für immer mehr Menschen immer mehr verschlechtert. Es ist alles gesagt. (Aber ändern? Ändern wird sich nichts. Viele sind froh, dass sich nichts ändert.)
Juden und Palästinenser Das Bild vor euch hat der Wiener Künstler Arik Brauer
gemalt. Es trägt den Titel
Die Geschichte von Jakob und Esau ist die Geschichte der Juden und Palästinenser. Jakob und Esau waren Zwillingsbrüder. Allerdings sehr unterschiedliche. Schon im Bauch ihrer Mutter Rebekka stießen sie aneinander als sei der eine dem anderen zuviel. Der Erste, Esau, war rauh und wild, ein Jäger. Der Zweite, den sie Jakob nannten, war anschmiegsam und blieb lieber bei den Zelten. Esau weint das ganze Bild nass. Heiße Tränen fließen über sein Gesicht. Feuer, das aus seinen Augen flammt und im Herzen brennt. Esau ist betrogen worden. Er steht da mit leeren Händen, leerem Herzen. Jakob und Rebekka haben einmal mehr zusammengehalten. Schon zum zweiten Mal ist er auf die List des jüngeren Bruders hereingefallen das ist der Hintergrund des Bildes. Zuerst verlor Esau sein Erstgeburtsrecht an Jakob. Der hatte sich das Recht für eine Schüssel voll Linsen vom hungrigen Esau erkauft. Was für ein billiger Tausch für den Jüngeren! Heute hat ihm sein Bruder Jakob auch noch den Segen genommen. Den Segen ihres sterbenden Vaters, der eigentlich Esau galt. Dieser Segen schenkt Land und Leben, Fülle und Zukunft. Jakob sammelt Liebe und Segen ein wie Linsen in die Schüssel. Esau geht leer aus. Esau scheint beinahe zu zerfließen vor Traurigkeit und dem Unrecht, das ihm sein Bruder angetan hat. Aber Esau hat Recht. Die Palästinenser haben Recht mit dem Anspruch auf das Land, in dem sie wohnten. Jakob hat den Segen. Wenn Recht und Segen gegeneinander stehen, ist der Konflikt unauflöslich. Muss Jakob leben in der ständigen Bedrohung, aus dem Land geworfen zu werden wie damals am Ende gar ins Mittelmeer? Muss Esau leer ausgehen? Er ist leer ausgegangen. Und er rastet aus wie damals. Niemand hat mehr etwas übrig für ihn. Aber Esau weint nicht nur wegen Jakob und dessen Betrug. Es ist nicht nur ein politisches Problem. Esau weint, weil auch Gott nichts mehr für ihn übrig hat. Er weint weil sein Gott dieses Unrecht zulässt. Ja, Gott lässt es nicht nur zu, sondern er stand von Anfang an auf der Seite Jakobs, des Geliebten, des Hinterlistigen. Darum fließen die heißen Tränen. Darum brennt sein Herz. Vor den Menschen allein, allein gelassen von Gott. Könnt Ihr ihn verstehen? Seinen Schmerz nachempfinden? Kennst du das: Stehengelassen, hintergangen von den Menschen, denen du vertraut hattest? Und Gott ist plötzlich weit weg, und dreht dir seinen breiten Rücken zu? Gott spielt ein merkwürdiges Spiel. Alle Welt hätte sich für den Erstgeborenen und sein natürliches Recht entschieden. Aber Gott entscheidet sich gegen die Natur. Und was noch schlimmer wiegt: Er entscheidet sich gegen die Moral. Jakob ist der Hinterlistige. Was die Israelis heute tun, ist unrecht und ist unmoralisch. Auch wenn der Terror der Palästinenser unmenschlich ist, darf ein Staat nicht Unrecht tun. Und doch verkörpert Gott mit seiner Freiheit, zu wählen, mit seiner radikalen Autonomie, zu lieben, wen er will, verkörpert er die große Sehnsucht Esaus und der Palästinenser nach Autonomie, nach der Freiheit und Wahl ihres eigenen Staates und Wohnrechts im Nahen Osten. Damals ist die Geschichte von Jakob und Esau wider Erwarten gut ausgegangen. Am Ende hat die Brüderlichkeit gesiegt. Die Freiheit Esaus hat ihr Recht bekommen, ohne den Segen Jakobs zu gefährden. Noch einmal sind da Tränen. Tränen, die sie, Esau und Jakob, nun gemeinsam weinen. Und ich glaube, Gott weint mit ihnen. Alle Tränen, die wir gemeinsam weinen, sind stark und voller Energie, die Welt und das Herz zu bessern. Merkwürdig unparteiisch erzählt die Bibel diese Geschichte. Sie endet auch nicht mit Happyend, sondern mit einem vorsichtigen Verbesserungsvorschlag: Jakob und Esau werden beide in getrennten Gebieten eigener Souveränität leben. Sie werden versuchen, wirtschaftlich und politisch möglichst normal miteinander umzugehen und religiös möglichst neutral zu sein. Sie werden sich nicht angreifen. Und sie werden für Jerusalem, den Berg Morija, der ihrem Vater Isaak fast zum Verhängnis wurde und ihnen heilig ist, eine gemeinsame Lösung finden. Die Geschichte von Jakob und Esau gehört zum kollektiven Gedächtnis ihrer Völker. Ich habe sie euch so ausführlich erzählt, weil das Bild Arik Brauers, der übrigens Jude ist und in Israel wohnt, voll Energie ist: Der Tränen, die wir, Israelis und Palästinenser, Juden, Christen und Muslime gemeinsam weinen. Mit den Rabbinen und Schriftgelehrten möchte
ich um diese Auslegung streiten. Ich möchte sie aber gleich warnen,
denn ich habe Rabbi Schmelkle von Nikolsburg auf meiner Seite. Profetisch
sagte er vor langer Zeit: Der Messias, Sohn Davids, kommt nicht, ehe die
Tränen Esaus versiegt sind. Flehen doch auch die Kinder Israels Tag
und Nacht um Erbarmen. Sollen ihre Tränen umsonst geweint sein, solange
auch die Kinder Esaus weinen?... Und wahrlich, Messias, Sohn Davids, kommt
nicht, ehe die Tränen Esaus versiegt sind ... Liza Heiner
Predigt im Gedenkgottesdienst aus Anlass des Amoklaufes
in Erfurt
Du sollst nicht töten! Dieses Gebot gilt seit ältesten Zeiten. Es gilt heute ebenso: Du sollst nicht deine Lehrerin töten und nicht deinen Mitschüler! Du sollst keinen Älteren ermorden - und - du sollst auch nicht dein eigenes Leben zerstören! Denn: Wenn ein Mensch getötet wird, stirbt eine ganze Welt - sagt ein jüdisches Sprichwort.
Darum sagt Jesus: Mord beginnt im Herzen - unsichtbar. Dann setzt er sich im Kopf fest. Der Mord beginnt in meinem und in deinem Herzen. Er beginnt mit der Wut, der Enttäuschung. Er äußert sich im Schimpfwort und kann schließlich im einsamen Hass münden, der andere zur Zielscheibe macht. Aber - so werden Sie fragen - ist es nicht eine Zumutung, am Tag der Trauer und des Entsetzens, an dem Tag, an dem wir uns um die Angehörigen der Opfer sammeln, an dem Tag an dem sich das Mitleid Ausdruck sucht, an dem Tag, an dem wir zusammenstehen und uns gegenseitig stützen wollen, ist es da nicht eine Zumutung, den Blick auf diese Abgründe, auf den Anfang in uns selbst zu richten? Wir waren es doch nicht! Unter uns sind die Betroffenen, die tief Verletzten! Doch: es gibt keinen einfachen Trost. Wir sind es den Opfern schuldig: Prüfe sich jeder selbst und erspare sich nichts! Nur wer die Augen nicht vor sich selbst verschließt, kann anders handeln und mit anderen zusammen Leben gewinnen. Es ist gut, wenn wir Blumen und Kerzen auf den Domstufen niederlegen. Es war das Nächstliegende, dass Ihr, Schüler und Lehrer, euch in die Arme genommen habt, wobei viel Kleines und Kleinliches bedeutungslos wurde. Es ist wichtig, wenn Zeichen der Trauer vor der Gutenberg-Schule stehen. Es sind Zeichen dafür, dass ihr beieinander bleibt, dass ihr nicht allein seid - in Trauer und Wut, in Verstörung und Angst. Es wird gut sein, wenn Zeichen der Erinnerung zu Hause, in der Schule, in der Stadt bleiben. Doch die wichtigste Folge wird sein: Ihr werdet aufeinander zugehen und feststellen, was zwischen euch steht; dann, wenn der Alltag allmählich wieder einkehrt; dann, wenn neben der Trauer anderes wieder Platz findet. Wir können nur gemeinsam leben, Leben gewinnen. Denn auch das Leben beginnt im Herzen, und ergreift den Kopf, friedliches Leben, Leben, das den tödlichen Hass überwindet. Es beginnt - fast unmerklich - mit dem aufmerksamen Blick: Was fehlt dir? Es setzt sich fort, wenn Zeit für ein langes Gespräch ist, wenn Wut und Enttäuschung, Zorn und Bitterkeit ausgesprochen werden können; wenn ich meine eigene verborgene Schuld eingestehen - und mein Gegenüber verzeihen kann; wenn so Geduld miteinander und Zuversicht wachsen können. Selig sind, die Frieden stiften. Auch dafür brennt die 17. Kerze. Das ist - heute - eine Hoffnung gegen den Augenschein, es ist eine Bitte, ein flehendes Gebet an den, der uns Leben schenkt und uns begleiten will: Wir wenden uns an ihn: Verlass uns nicht in der tiefen Dunkelheit! Gib Trost, wo die Trostlosigkeit über uns zusammenzuschlagen droht! Hilf dort, wo nichts mehr zu helfen scheint! Schaffe Gerechtigkeit, verwandle den Tod in neues Leben! So, wie du es an Jesus von Nazareth sichtbar gemacht hast! So halten wir die Hoffnung fest, dass uns am Ende Gott erwartet. Er wird zu jeder, zu jedem sagen: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Und dieser Friede Gottes bewahre
eure Herzen, Sinne und Verstand. |